Die Orchestrierung der Dinge und Geschehnisse des Alltags

Anmerkungen zu einigen Bildern Aïchas

Ohne Zweifel, Aïcha hat einiges erlebt. Und sie hat sich in das Abenteuer Malerei gestürzt. Dazu, wie beides miteinander zusammenhängt, später mehr.  

Aïcha malt, meist im großen Format und auf Holz. Zum Einsatz kommen Pigmente, wässrige Bindemittel oder auch Latex, Acrylfarben nebst Kreiden. Die Farben sind dünn, geradezu aquarellartig aufgetragen. Aïcha malt unmittelbar in einem Zug. Ihre Bilder sind unverstellt – sie sind, was ihre Verwurzelung in der Biografie der Künstlerin anbelangt, geprägt durch eine tiefe Authentizität. Lebensgroß präsentieren sich die Figuren ihrer Werke jüngeren Datums, wodurch diesen eine  dialogische Dimension zuwächst: Die Protagonist:innen der Bilder und deren Betrachter:innen begegnen einander auf Augenhöhe. Und nicht selten schwingt ein psychologisierender Unterton mit. So geht etwa der Blick einer Frau in schwarzem Dienstmädchenkostüm – wir sehen Odette, die Haushaltshilfe – ins Weite; und zugleich ist ihr Gesichtsausdruck nach innen gekehrt, durchaus ein wenig streng, als wäre die Figur ganz und nur bei sich, vielleicht voller Stolz, vielleicht aber auch des Lebens müde. Sie hockt auf einem Treppenabsatz. Unerschütterlich. Mit spürbarem Gewicht. Skulptural. Ihre in blauen Gummihandschuhen steckenden Hände liegen überkreuzt im Schoß. Dass das Fenster hinter Odette keinen Ausblick bietet, intensiviert die Blick-Gegenblick-Situation noch und lässt eine Ahnung von Ausweglosigkeit aufsteigen. Das Bild erzählt von einer starken Frau im Schatten …

Und nicht selten schwingt ein psychologisierender Unterton mit.

Ohne Zweifel, Aïcha hat einiges erlebt.

Michel et Elle – ein Doppelporträt und, nebenbei bemerkt, das erste Porträt aus Aïchas Hand – ist vergleichbar angelegt. Wir sehen zwei Leute inmitten eines Interieurs, dessen räumliche Tiefe auf ein Minimum reduziert ist. Die Figuren sind wie Intarsien eingebettet in Farbfelder, die für den Fußboden stehen, für Wand, Zierleisten, einen runden Beistelltisch oder das vom Fenster evozierte Lichtspiel. Während der Mann durch die Beschriftung „Michel“ auf dem Blaumann sich als Bauer aus der Normandie zu erkennen gibt, bleibt die Identität der weiblichen Figur durchaus im Vagen. Ist sie das Konterfei von Michels Ehefrau, seiner Großmutter, ein Selbstporträt der Künstlerin – oder gar von allen etwas? Sollen wir die Frau im Bild als die Komplizin der Künstlerin verstehen? Malerisch markant, sind ihre Gesichtszüge durch einen Bilderrahmen auf der Rückwand gefasst und so als Bild im Bild inszeniert. Das unterstreicht das isolierte Nebeneinander der beiden Figuren, den Eindruck, dass sie nichts verbindet, wohl zuallerletzt positive Emotionen. Stier schauen beide nach vorn. Michels Hände stecken tief in den Hosentaschen wie festgenäht. Er wirkt wie ein wortkarger Grantler oder Grummler, der, wie andere Männer seines Schlages auch, gerne noch ein Gläschen Schnaps kippt auf die Ungerechtigkeiten einer Welt, in der man sich nur nehmen müsse, was man mit Leidenschaft begehre. Michel, seine Ehefrau hieß Chantal, war in Aïchas jungen Jahren ihr Pflegevater.

Orange, Pink, grünliches Ocker grünlich, bräunliches Cadmiumrot … helles Pink, bräunliches Orange, bläuliches Hellgrau, Pink und Pink – locker gemalt sind die einzelnen Fliesen eines Küchenbodens. An der graublauen Wand der Küche ein orthogonales Feld aus kräftig orangefarbenen Kacheln, die Fugen leuchtend rot. Was für ein Farbenrauschen! Malerisch ganz große Schule! Dazwischen braune Partien, die die Beine des Küchentischs andeuten, als gehörten auch sie zum Boden. Und auf dem Tisch? Eine noch gut gefüllte Flasche Pastis der Marke Ricard. Und ein volles Glas, gehalten von der Hand einer etwas aufgedunsenen Frau. Es ist Chantal, Michels Ehefrau, die neben dem Tisch auf einem Stuhl sitzt, kaum dass von diesem noch etwas zu erkennen wäre. Links und rechts neben ihrem Kopf ein kleines Stückchen Lehne und eine Quersprosse zwischen ihren Waden, mehr nicht. Was für eine intimste Privatsphäre in diesem Bild! Man möchte so etwas von sich selbst nicht der besten Freundin, dem besten Freund je zumuten. Die Füße der Frau – sie trägt ein eher einfaches Schürzenkleid mit bescheidener Borte – stecken im Wasser eines blauen Zubers. Sich in einer Küche die Füße waschen und zugleich betrinken, nicht nächtens, sondern an einem Tag voller Sonnenschein, wie die Farbigkeit des Bildes herausstreicht. Das ist bei aller Farbenfröhlichkeit schon harte Kost – wohin soll von hier aus denn ein Aufbruch gelingen, wie sollen Zuversicht und Vertrauen wachsen?

Die früheren Bilder Aïchas kommen ohne Figuren aus. Man ist versucht zu sagen, sie seien ihrer Anlage nach eine Spur ruppiger, sperriger als die neueren Werke. Das liegt an ihren fast brutalistisch anmutenden Bildräumen. Auch sind sie weniger farbintensiv, eine Spur düsterer noch. 

 

Was für eine intimste Privatsphäre in diesem Bild!

Aïcha’s earlier paintingsmanage without figures.

Etwa ist die Frontansicht eines weiß lackierten R4 derart und ganz leicht asymmetrisch ins Bildgeviert eingepasst, dass kaum ein Blatt Papier zwischen ihn und den Bildrand passen würde. Kühlergrill, Motorhaube, Lüftungsschlitz, Windschutzscheibe und Lenkrad – der Rest des Innenraums ist grafisch lediglich angedeutet. Alle Details stapeln sich eher, als dass ihre Anordnung Tiefe oder Raum suggerierten. Ein großartiges Abbild eines „Volksautos“, das wie die ebenfalls aus Frankreich stammende Ente oder der Käfer aus Deutschland ab den 1960ern und in den Folgejahren den Traum des Kleinbürgers von Mobilität und Freiheit verkörperte … Und dann erst der Bus. Auch dieser ist völlig flach und randparallel ins Bild gesetzt. Kühn ausbalanciert ist seine Farbgebung mit dem Kontrast aus warmem neben kaltem Grün. Einen raffinierten Rhythmus inszenieren die hell-dunklen Partien seiner Fenster. Wie sie mal Durchsicht bieten und dann wieder nicht, folgt weniger einer inneren Logik als vielmehr einer durch und durch spielerischen Intuition. Dass die als leuchtend gelbes grafisches Kürzel angedeutete Sonne die Zahlen „1 2 3“ trägt, lässt vermuten, dass Aïcha, wie Kinder allerorts, sich die Wartezeit auf den Schulbus mit dem Kinderspiel Ochs am Berg vertrieben hat, das im Französischen eben 1, 2, 3 soleil heißt. Die linke Tafel eines anderen, zweiteiligen Gemäldes ruft ebenfalls ein Kinderspiel in Erinnerung. Zu sehen ist das Feld des Hüpfspiels Himmel und Hölle, daneben ein aufblasbares, mit Wasser gefülltes Kinderbecken. Leuchtend blau sind dessen Farben. Ein grüner Wasserschlauch schlängelt als Verbindung hinüber auf die rechte Tafel und endet dort mittig an einem Gebäude – einem architektonischen Kuriosum aus dem ländlichen Norden Frankreichs. Die eine Hälfte öffentlich zugängliches Rathaus, ausgewiesen durch die Beschriftung „MAIRIE“ über und durch eine kleine Tricolore neben dem Eingang, die andere Hälfte, erkennbar durch Geranien, die vor dem Fenster hängen, Wohnhaus und als solches ehemaliger Rückzugsort auch für Aïcha.

Aïcha malt vor dem Hintergrund ihrer eigenen Lebensgeschichte. In ihren Bilderwelten kehrt sie zurück zu ihrer Kindheit und Jugend. Sie reflektiert Träume und Sehnsüchte und entwirft bisweilen gar romantische Szenerien. Sie orchestriert die Dinge und Tragödien des Alltags. Das Zimmer ihrer Kindheit war karg und dunkel (La chambre de mon enfance ist das Bild betitelt). Während eine Maus am Fußende eines metallenen Betts ein hochriskantes Spiel mit einer Falle treibt, weisen ein Medikamentenfläschchen und insbesondere die beigefügten Worte „INSOMNIE – ANXIETE – NERVOSITE“ (Schlafstörung – Ruhelosigkeit – Nervosität) das Kinder- auch als Krankenzimmer aus, sodass man sich fragt, ob dort eine gesamte Kindheit im Zustand der Betäubung verbracht wurde? Ein Bild eines weiteren Schlafraums, dieses Mal wohl in einem Waisenhaus: „INTERIEUR EXTERIEUR“ – innen außen – lautet eine seiner Inschriften. Ein weiß-blau gestreifter Vorhang, der oben mit einem Volant besetzt ist, ist zu den Seiten hin bauschig weggebunden. Dazwischen ein nur angedeutetes weißes Fensterkreuz. Von draußen blicken wir in einen engen, aber bunt ausstaffierten Innenraum. Rosafarben strahlt das Bett, das neben einer kleinen Freifläche davor gerade noch so Platz im Zimmer hat. Sein oberes Ende schließt ein grün-schwarzes Gestänge ab, das, malerisch ausgefeilt, mit der ruhigen Fläche des rosafarbenen Betts korrespondiert. Das ganze Bett in Rosa – steht die Szene symbolisch für das Reich der Unschuld, das verloren ging? Doch was man in diesem Zusammenhang oft vergisst: Selbst das Paradies, wo es anfangs keine Sünde gab, war das schönste aller uns bekannten Gefängnisse, der begrenzte Garten Eden inmitten einer ansonsten wüsten Landschaft.

Aïcha malt vor dem Hintergrund ihrer eigenen Lebensgeschichte.

Ich habe (meiner Mutter) nie ich liebe Dich gesagt.

Der Schock, den Aïcha erfuhr, als sie, zurück von der Schule, nach nur wenigen Tagen einer persönlichen und vermeintlich glücklichen Wiederannäherung an die Mutter diese nach ihrem Suizid tot auffand, ist im Bild Je n’ai jamais dis je t’aime à ma mère (Ich habe zu meiner Mutter nie gesagt „ich liebe dich“) kondensiert. Nicht nur diese Hommage an die Mutter, auch andere Bilder Aïchas zeigen Orte des Geschehens, wo man aber nicht etwa die Protagonist:innen in Aktion sieht, sondern nurmehr Spuren oder Requisiten Indizien für den Ablauf liefern. Da ist einmal das geradezu froststarre Interieur, das in Erinnerung an die Besuche bei der Großmutter am 1. Mai, dem Tag der Arbeit, entstanden ist: Ein großer Wandkalender weist den Feiertag lesbar aus. Der Tisch davor ist leer und wenig einladend. Der blaue Arbeitskittel hängt an der Tür, darunter steht ein Paar Gummistiefel bereit, um im Rhythmus des bäuerlichen Alltags fortzufahren, der ja geprägt ist durch die keinen Feiertag respektierenden Tiere und Pflanzen. Deren Bedürfnisse hat man fraglos zu befriedigen – die Welt ist doch nicht allein geformt aus Ideen und aus Idealen!

Ein Festtag? Eine Hochzeit gilt sehr wohl als solcher. Danach dann als das Tüpfelchen auf dem i: die Hochzeitsreise. Zum Diner lädt der eingedeckte und geschmückte Tisch. Champagner steht, sogar schon in Gläsern, bereit. Auf dem Tisch verstreute Margeritenblüten symbolisieren Glück und Zuversicht. Das Bild macht Wünsche und Projektionen, ja innere Welten sichtbar – es ist also durchaus romantisch. Doch geht es hier weniger darum vorzuführen, was man gerne selbst zu erleben wünscht, als vielmehr darum, was sich durch die Mittel der Malerei als Wirklichkeit formt. Entsprechend raffiniert gemalt ist das Tischtuch aus floralen Spitzen, das zwischen allen übrigen Objekten eine Verbindung stiftet und zugleich eine traumähnliche Atmosphäre des Schwebezustands zwischen Zeigen und Verbergen schafft.

Das Bild macht Wünsche und Projektionen, ja innere Welten sichtbar.

Wild und mit großer Freiheit, doch zugleich auch kontrolliert durch malerisches Urvertrauen.

Mit der Natur sprechen feiert die Malerei – wild und mit großer Freiheit, doch zugleich auch kontrolliert durch malerisches Urvertrauen. Kein einziges Blatt im Dschungel, auch kein anderes Detail des Dickichts, ist formgetreu umgesetzt. Was wir als Palmen, Farne oder Unterholz lesen, ist pure Malerei. Frei gesetzt sind alle Pinselstriche, die Farbpfützen, die gestischen Abbreviaturen. Und wieder galoppieren Farben: gelbliches neben bläulichem Grün, ein Fetzen Kobaltblau, darunter einer in Orange, frei aus der Hand heraus ein Pinsel-Hin-und-Her von dunklerem zu hellem Grau, lachsfarbener Hintergrund, eine Spur Neapelgelb darauf … Am unteren Rand schwingt sich eine hellblaue Zone durch das Bild. Ein Bachlauf? Voller Vitalität füllt die „Sprache der Natur“ den gesamten Bildraum aus. Es ist ein wenig wie bei dem flirrenden Licht-und-Schatten-Spiel, das zu erleben ist, wenn man an einem sonnigen Tag bei leichter Brise unter einer dicht bewachsenen Pergola sitzt. Mit diesem Dschungel haben wir sie wieder: die bildgewordene Vorstellung vom Paradies.

Zu guter Letzt ein weiteres Interieur, La Garçonnière betitelt. Der Begriff bezeichnet im Französischen eine bescheidene Junggesellenwohnung. Meist ein Zimmer nur, mit Vorraum für Küche und Sanitärbereich. Ein von Frauen bewohntes Pendant des Wohnungstyps würde wohl Studio oder Appartement genannt. Zentral im Raum findet sich ein blütenweißes Bett, flankiert von Bildfeldern mit floral-ornamentalen Mustern auf der einen und einer stattlichen Topfpflanze auf der anderen Seite. Und auf dem Bett ein Paar. Beide gut, ja feierlich gekleidet. Vorn der Mann (der Junggeselle?), direkt dahinter, ihn überragend, die Frau. Einer ihrer Arme in langen rosa Handschuhen liegt über seinem Herzen, der andere auf dem Rücken. Sehen wir hier eine männliche Muse? Oder entwirft das Bild eine Form von zweisamer Einsamkeit? Ist die Frau einseitig verliebt (zumindest verliebter als er, der ihr nicht wirklich zugewandt zu sein scheint), wie ihr Blick und ihre Körperhaltung vermuten lässt? Oder handelt es sich vielleicht im Gegenteil um eine glückliche Liaison, ist der Kopf des Mannes doch unmittelbar unterhalb der Brüste der Frau geradezu untrennbar fest an ihren Körper gedrückt? Die Deutungsmöglichkeiten der Szenerie bleiben schlussendlich vielschichtig, das Bild selbst auf spannungsvolle Weise geheimnisvoll. Das Gemälde bei Aïcha zu Hause – in einem traditionellen mallorquinischen Landhaus, dem Wohn- und Arbeitsort der Künstlerin – zu sehen, macht augenfällig, wie Alltagsdinge und -dekor als Spolien der Realität Eingang finden in ihre Bilder, die diesbezüglich also ganz dem Hier und Jetzt verpflichtet sind. So steht beispielsweise eine groß gewachsene Topfpflanze in einem Nachbarraum des Hauses, und das blaue Ornament, das das untere Ende der Bettdecke ziert, findet sich an den gefliesten Absätzen der Treppe, die nach oben führt.

Eben noch im Haus der Künstlerin, waren wir kurz ausgegangen. Und am Ende des Tages rennt eine Hündin dann die letzten vielleicht einhundertfünfzig Meter ganz aus freien Stücken und mit launig weit ausgreifendem Galopp allein zurück zum Haus … Es wäre wohl kaum eine Überraschung, wenn diese Hündin demnächst als Protagonistin eines der bildgewaltigen Werke der Künstlerin in Erscheinung treten sollte. 

Oder entwirft das Bild eine Form von zweisamer Einsamkeit?

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